Wissenschaftsgeschichte als Erfahrungsgeschichte (Tübingen, 01.-02.12.2000)

Wissenschaftsgeschichte als Erfahrungsgeschichte (Tübingen, 01.-02.12.2000)

Organisatoren
Projektbereich: "Kriegserfahrung und wissenschaftliche Praxis" des Tübinger Sonderforschungsbereichs "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit"
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.12.2000 - 02.12.2000
Url der Konferenzwebsite
Von
Wunderle, Ulrike

"Wissenschaftsgeschichte als Erfahrungsgeschichte. Erfahrungsgeschichte als Möglichkeit einer Wissenschaftsgeschichte in Kriegs- und Krisenzeiten"

Inwiefern kann ein erfahrungsgeschichtlicher Zugang fuer die Wissenschaftsgeschichte fruchtbar gemacht werden? Mit dieser Frage beschaeftigten sich am ersten und zweiten Dezember letzten Jahres die Teilnehmer der Arbeitstagung "Erfahrungsgeschichte als Moeglichkeit einer Wissenschaftsgeschichte in Kriegs- und Krisenzeiten", die der Projektbereich "Kriegserfahrung und wissenschaftliche Praxis" des Tuebinger Sonderforschungsbereichs "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" organisiert hatte.

Dieser Sonderforschungsbereich widmet sich der Aufgabe, die Bedeutung von Krieg fuer die Geschichte der Neuzeit mit einem wissenssoziologisch fundierten Erfahrungsbegriff als kulturwissenschaftliche Leitkategorie zu untersuchen. Der Projektbereich "Kriegserfahrung und wissenschaftliche Praxis" versucht, ausgehend von einem Verstaendnis von Wissenschaft als soziale und kulturelle Praxis den erfahrungsgeschichtlichen Zugriff auf die Untersuchung von wissenschaftlichen Disziplinen in Kriegs- und Krisenzeiten anzuwenden.

Die erste Sektion "Moeglichkeiten und Grenzen einer Erfahrungsgeschichte" widmete sich der Aufgabe, den methodischen Zugriff des Tuebinger Sonderforschungsbereichs vorzustellen. In ihrem Einleitungsvortrag "Wissenschaftsgeschichte als Erfahrungsgeschichte" erlaeuterte Katrin Koehl (Tuebingen) den zugrundeliegenden Erfahrungsbegriff. Dieser fuehrt, basierend auf dem Konzept der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit (Berger/Luckmann), die drei Dimensionen von Wahrnehmung, Deutung und Handlung zusammen und beleuchtet sie in ihren Wechselwirkungen. Die Referentin verband dieses Konzept mit der Idee von Erfahrungsraeumen, die die Wahrnehmung der Akteure praegen, ihr Handeln strukturieren und die Bildung von Deutungsmustern mitbestimmen. Gleichzeitig werden eben diese Erfahrungsraeume durch permanent ablaufende Prozesse der Wahrnehmung, Deutung, und Handlung hervorgebracht, perpetuiert und aktualisiert. Die Praegung von wissenschaftlicher Praxis durch Krieg sowie die Wahrnehmung und Deutungstaetigkeit der in diesen Raeumen agierenden Forscher laesst sich folglich ueber die Untersuchung von Erfahrungsraeumen, die dem Historiker in bewusst oder unbewusst generierten Codierungen zugaenglich werden, erschliessen. Da die Erfahrungsraeume wissenschaftlicher Taetigkeit zumeist klar von den Schauplaetzen der Kriegshandlungen getrennt sind, wird hier die Eigenstaendigkeit der Kriegserfahrung gegenueber dem unmittelbaren Kriegserlebnis besonders deutlich. Am Beispiel der Friedens- und Konfliktforschung in den USA und in der Bundesrepublik beleuchtete die Referentin sodann die Etablierung neu generierter Deutungsmuster von Krieg nach 1945 und die Entstehung konkreter neuer Forschungsraeume im Zuge der Institutionalisierung der Disziplin in den 50er (USA) und 60er Jahren (BRD). Besondere Beachtung schenkte sie hierbei dem gemeinsamen Denk- und Handlungszusammenhang des Westens, dem nationalen Raum mit jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Formationen und dem wissenschaftlichen Raum als ¨Kleinraum¨innerhalb des nationalen Bezugrahmens sowie als dem nationalen Raum ueberschreitender inter- und transnationaler Zusammenhang betrachtete.

Das zeitgenoessische Verstaendnis von Wissenschaft und Krieg stand im Zentrum der Ausfuehrungen von Daniel Hohrath (Trier) ueber "Scientific Revolution" und "Military Revolution" der Fruehen Neuzeit. Ausgehend von der Ueberlegung, dass eine "Kriegserfahrungsgeschichte der Wissenschaft" mit einer Definition der "Wissenschaftler" beginnen und sich sodann der Frage nach dem Ort des Krieges und des Kriegswesens innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion der Epoche zuwenden muesse, schenkte er der Rolle der "Wissenschaftler" im oeffentlichen militaerwissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit. In dieser Zeit kann von einer nicht klar begrenzten, Staende und Berufsgrenzen ueberschreitenden Gruppe von Gelehrten bzw. Gebildeten ausgegangen werden, die sich durch ihre jeweiligen Taetigkeiten, ihre Veroeffentlichungen und ihre Teilnahme an einem oeffentlichen Diskurs als "Wissenschaftler" verstanden. Diese Gelehrten legitimierten ihre Deutungsfunktion zum einen aus dem Selbstverstaendnis als Mit-Erlebende und kritisch reflektierende Beobachter und zum anderen aus einem neuen, aufgeklaerten Verstaendnis der "Wissenschaft", die ueber ihre Vertreter vermittelt zum Wohle der Gesellschaft beitragen sollte. Diese oeffentliche Diskussion der Gelehrten ueber die Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse fuer den aufgeklaerten "Kriegsstaat" bildete einen zentralen Anstoss zur Entstehung der "Kriegswissenschaften" (Ballistik Bautechnik, Kartographie und politische Statistik), die in der Gruendung von Militaer-Akademien ihren institutionellen Ausdruck fand. Ungeklaert ist bislang, wie nun die militaerische Anwendungsorientierung dieser "Kriegswissenschaften" auf die inhaltliche und institutionelle Entwicklung der jeweiligen Disziplin einwirkte, oder in welcher Beziehung die Wissenschaft von Festungsbau und Belagerungskunst zu der tatsaechlichen Bedeutung des Festungskrieges und den Veraenderungen in der Kriegsfuehrung stand. Die Frage, inwieweit die Perfektionierung und Rationalisierung des Militaerwesens, die von ihren aufgeklaerten Befuerwortern nicht zuletzt als eine Moeglichkeit zur "Zaehmung der Kriegsfurie" gesehen wurde, die Basis der "modernen" Totalisierung des Krieges legte, problematisiert in besonderer Weise das Spannungsverhaeltnis zwischen den Erwartungshorizonten der historischen Subjekte und dem historischen Wissen um den faktischen Verlauf der Ereignisse und fuehrte zu einer anregenden Diskussion zwischen Historikern der Neuzeit und der Zeitgeschichte.

Die Zweite Sektion "Wissenschaft, Grenzen und der Erste Weltkrieg" befasste sich mit der nationalen und internationalen Dimension von Wissenschaft unter dem Eindruck von Kriegs- und Krisenerfahrungen.

In ihrem Vortrag "Gruendlichkeit im Zeichen der "Not". Die Deutsche Atlantische Expedition der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft (1925-1927)" thematisierte Sabine Hoehler (Berlin) die Bedeutung wissenschaftlicher Leistungen fuer die nationale Selbstpraesentation und Selbstverstaendigung infolge von Kriegen. Am Beispiel der ozeanographischen Expedition an Bord der Meteor zeigte die Referentin wie die wissenschaftliche Erschliessung ozeanischen Raumes in einer inszenierten Situation des (Raum-)Mangels nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg zur kollektiven Bezwingung dieses Mangels beitrug. In ihrer Argumentation war die Konstruktion der kollektiven deutschen ¨Not¨ zentral, die Sabine Hoehler als einen Mythos deutete, der die "Restriktionen des Versailler Vertrages zur Ursache und zum Ausgangspunkt eines Aktes der Befreiung des 'deutschen Volkes' aus seiner 'Knechtschaft' machte und durch die gemeinsame Bewaeltigung dieser 'neuen grossen Aufgabe' dessen Unabhaengigkeit, Expansion und Fortschritt versprach". Die mit modernster Technik, dem akustischen Tiefenlot, ausgefuehrte Vermessung des Meeresbodens erlaubte es einerseits, wissenschaftliche Erfolge mittels der Rhetorik, Metaphorik und Pragmatik der "Gruendlichkeit" in viel aeltere Selbstbeschreibungen der deutschen Nation einzufuegen, und andererseits einen nicht unmittelbar existenten Raum zu kreieren, der eine Anknuepfung an das deutsche Reich als Imperialmacht erlaubte. Das Prestige der Meteor-Expedition und die wissenschaftliche Konstruktion eines neuen "symbolischen" Raumes, der zugleich einen neuen Machtbereich eroeffnete, ermoeglichte somit die Aufwertung der deutschen Nation nach dem Ersten Weltkrieg.

Eckhardt Fuchs (Berlin) beschaeftigte sich mit der Bedeutung dieses Krieges fuer die internationale scientific community. Er stellte die These auf, dass der Erste Weltkrieg nicht zum Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik gefuehrt, aber zu einer nachhaltigen Veraenderung ihrer Organisation, Machtstruktur und Geographie beigetragen habe, wobei die USA das neue Zentrum der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft bildete. So organisierte der waehrend des Ersten Weltkriegs eingerichtete National Research Council nicht nur die Mobilisierung der Wissenschaft fuer den Krieg in den USA, sondern koordinierte ausserdem mit Hilfe der 'wissenschaftliche Attaches' an den Botschaften in Paris, London und Rom die Kooperation mit den Verbuendeten. Auch der nach dem Ersten Weltkrieg gegruendete International Research Council ging auf einen US-amerikanischen Vorschlag zurueck, und es war vor allem dem Druck der USA zu verdanken, dass sich den deutschen Wissenschaftlern ab Mitte der 20er Jahre die Moeglichkeit eroeffnete, die kriegsbedingte Isolation zu ueberwinden und den neuen internationalen Organisationen beizutreten. Doch nicht nur gegenueber der westeuropaeischen Wissenschaftsgemeinschaft nahmen die USA nach dem Ersten Weltkrieg eine dominante und gestalterische Rolle ein. Vielmehr konnte der Referent anhand seiner Untersuchung der scientific community in Lateinamerika und im pazifischen Raum zeigen, dass die wissenschaftliche und institutionelle Konzeption der hier angesichts des Weltkrieges unter Ausschluss der europaeischen Wissenschaftler gegruendeten Wissenschaftsinternationale massgeblich von US-amerikanischen Vorstellungen gepraegt war. Dieses globale Engagement, das die drei Regionen Europa, Latienamerika und dem pazifischen Raum verband, deutete der Referent als den Uebergang des wissenschaftlichen Zentrums von Europa in die USA seit dem Ende des Ersten Weltkrieges.

Die Sektion "Expertenwissen in der Politik" thematisierte die Frage nach der Rolle von Wissenschaftlern als Deutungsinstanz im politischen Raum.

Thomas Kailer (Frankfurt/M.) befasste sich in seinem Vortrag "Deutungsmuster kriminellen Verhaltens und der Erste Weltkrieg" mit den Determinanten fuer die vorherrschenden Deutungen von Kriminalitaet und die entsprechend daraus ableitbaren rechtlichen, wissenschaftlichen und sozialen Reaktionen im Umgang mit Straffaelligen. Ausgehend von der Frage, welche Erklaerungen die professionell mit abweichendem Verhalten beschaeftigten Kriminologen und Strafrechtler fuer den kriegsbedingten Anstieg der Kriminalitaet gaben, stellte er die Deutungen der bisher dominanten Kriminalanthropologie und -biologie den Interpretationen der Kriminalsoziologie gegenueber. Waehrend die Kriminalanthropologie die Verbrechensursachen aus der biologisch-psychischen Konstitution des Taeters herleitete, war die Kriminalsoziologie im "gigantischen Experiment" Krieg zunehmend im Stande, den Einfluss sozialer Faktoren auf Kriminalitaet zu untersuchen und soziologische Begruendungen fuer Kriegs- und Nachkriegskriminalitaet zu liefern. Diese Verschiebung dominanter und wirkungsmaechtiger Deutungsmuster interessierte den Referenten auch unter dem Aspekt der Kontinuitaeten und Brueche. So machte er auf die Tendenz in den 20er Jahren aufmerksam, biologistische Ansaetze fuer den gesellschaftlichen Umgang mit Schwerkranken und Behinderten heranzuziehen, die nun als "minderwertige" "Ballastexistenzen" und "Defektmenschen" interpretiert wurden. Diese Rueckkehr zu biologisch unterfuetterten Modellen abweichenden Verhaltens gelte es vor dem Hintergrund der Kriegs- und Nachkriegserfahrung zu erklaeren.

Die Bedeutung von Krieg fuer die Entstehung einer anderen wissenschaftlichen Disziplin, der Politikwissenschaft, stand im Zentrum der Ausfuehrungen von Daniel Porsch (Universitaet Tuebingen) unter dem Titel "Sammeln fuer Krieg und Frieden. Die Arbeit der ersten politikwissenschaftlichen Forschungsinstitute in Grossbritannien und Deutschland in der Zwischenkriegszeit". Der Untersuchungszeitraum ergab sich aus der These, dass nicht der Taetigkeit der Wissenschaftler im Ersten Weltkrieg zentrale Bedeutung zukomme, sondern dass vielmehr die permanente Beschaeftigung mit jenem Krieg als wissenschaftlicher Gegenstand die Entwicklung der Disziplin massgeblich gepraegt habe. Der Referent fuehrte aus, dass beide Institute, das Royal Institute of International Affairs in London und das Institut fuer Auswaertige Politik in Hamburg, auf Vorstellungen und Ideale jener Experten zurueckgingen, die im Zusammenhang mit den Friedensvertraegen in Paris von den jeweiligen Auswaertigen Amtern aus Wirtschaft und Wissenschaft rekrutiert wurden. An das Vorbild englischer Colleges und deutscher Hochschulseminare anknuepfend, dienten die 1920 in London und 1923 in Hamburg gegruendeten und aus privaten Quellen finanzierten Institute als Treffpunkte fuer Experten aus Wissenschaft, Politik, Publizistik und Wirtschaft, um Wissen ueber Politik zu akkumulieren und gesellschaftlich verfuegbar zu machen. Die ostentative Betonung der Wissenschaftlichkeit und Ueberparteilichkeit im Umgang mit ihrem Gegenstand - Politik und Krieg - praegte das Selbstverstaendnis der Institute als Service- und Dienstleistungsunternehmen fuer die Oeffentlichkeit, Politik und Wirtschaft.

In der letzten Sektion wurden die zentralen Themen der Arbeitstagung zusammengefasst und im Plenum zur Diskussion gestellt.

Das Modell der Erfahrungsraeume, das in mehreren Beitraegen auf sehr unterschiedliche Weise Anwendung gefunden hatte, wurde nochmals aufgegriffen. Waehrend Sabine Hoehler symbolische Raeume bearbeitete, die von den zu untersuchenden Wissenschaftlern - Meteorologen und Ozeanographen - konstruiert wurden, sah Frau Koehl die Aufgabe des Historikers darin, die untersuchungsrelevanten realen und ideellen Erfahrungsraeume der Wissenschaftler zu identifizieren, um deren Wahrnehmung und Deutung von Krieg und daraus resultierendes Handeln verstehen und beschreiben zu koennen. Die Verwendung des "Erfahrungsraums" als analytische Kategorie regte Ueberlegungen zur Abgrenzung der Begriffe "Erfahrungsraum", "Lebenswelt" und "Aktionsfeld" an. In der Frage nach dem Mehrwert des erfahrungsgeschichtlichen Zugangs gegenueber den moeglichen Erkenntnissen einer Disziplinengeschichte, Institutionengeschichte oder Biographie wurde argumentiert, dass eine Erfahrungsgeschichte im Gegensatz zu jenen Ansaetzen die Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft herstellen und das Spannungsverhaeltnis zwischen Handeln und Struktur ueberwinden koenne. Allerdings wurde auch deutlich, dass verwandte kulturhistorische Ansaetze, so das von Sabine Hoehler vorgestellte Konzept des Mythos "Not" oder der von Thomas Kailer gewaehlte Zugang ueber "Wissenskultur" aehnliche Wege eroeffneten, um diese Probleme zu loesen. Ausgehend von den praesentierten Fallstudien liess sich ein gemeinsames Interesse an der Frage nach den Unterschieden zwischen den Kriegserfahrungen der Wissenschaftler und anderen Kriegs- und Elitenerfahrungen erkennen. Die Untersuchung von Wissenschaft als Deutungsinstanz beinhaltete fuer die Diskutanten nicht nur die Frage, wie Kriegsdeutungen handlungsrelevant werden, sondern muesse ebenfalls den Blick fuer das epochenbedingte gesellschaftliche Verstaendnis von Wissenschaft und den entsprechenden Denk- und Handlungsrahmen ihrer Repraesentanten schaerfen, als auch den gesellschaftlichen Umgang mit den generierten, oft konkurrierenden Deutungsmustern miteinbeziehen.

Schliesslich herrschte ein weitgehender Konsens darueber, dass Wissenschaft als Gemeinschaft mit ihrer Eigendynamik, ihren Sanktionsmechanismen und spezifischen Kommunikationsstrukturen zu betrachten sei, um das Wechselverhaeltnis mit gesellschaftlichen Veraenderungen, nationalen Interessen und internationalen politischen Entwicklungen zu verstehen.

Eine Anschlusstagung ist fuer den Herbst 2002 geplant.


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